von Thorsten
„ÖSTERREICHS ANSPRUCHSVOLLSTER TRAIL-WETTKAMPF: 1.800 Läuferinnen und Läufer aus 43 Nationen und ein sensationelles Publikum verwandelten Kaprun und die umliegende Bergwelt in eine Trailrunning-Arena der Superlative. Auf fünf Distanzen von 16 bis 110 Kilometern ging es für die Athlet:innen bei gemischten Wetterverhältnissen auf technisch anspruchsvolle Trails“, so die Pressenotiz des Veranstalters.
Wir waren im Urlaub in Österreich. Natürlich rein zufällig in der Nähe von Kaprun, dem Veranstaltungsort des Grossglockner Ultratrails. Statt für die ganze Runde um Österreichs höchsten Gipfel, hatte ich mich diesmal für die 57 km Distanz entschieden. Ich wollte versuchen, „schnell" ins Ziel zu kommen, also ausprobieren, was ich körperlich leisten kann. Meine geplante Rennstrategie auf dieser kürzeren Distanz war genau gegensätzlich zu der Taktik der langen Läufe.
Baustein 1: Schon sehr früh vorne einreihen und möglichst lange mithalten.
Baustein 2: Keine Verpflegungspausen – Energiezufuhr ausschließlich im Laufen durch Energiegels.
Baustein 3: Maximales Tempo in den Downhills, „Auskoppeln“; Risiko der Überlastung eingehen.
Baustein 4: Vollgas an der Schlüsselstelle (das ist der schwierigste Brocken).
Sehr exakt analysierte ich die gesamte Laufstrecke – auf Karten und im Internet. Eine Schlüsselstelle für meine Taktik war ein sehr langer Downhill (ab km 23), mit einer langen Fortsetzung auf einfachen Forstwegen (bis km 43). Zwei Tage vor dem Wettkampf lief ich diesen Streckenabschnitt dann auch vor Ort. Warum kann dieser Abschnitt so wichtig sein? Nun, als Flachländer ist es generell schon völlig abwegig, sich mit den ganzen „Bergbewohnern“ bei einem solchen Wettkampf zu messen – wenn ich konkurrenzfähig bin, dann in dem flachen Abschnitt. Die Herausforderung für mich besteht jedoch darin, genau dort auch ins Laufen zu kommen - mit Rucksack und Crossschuhen und der Vorbelastung aus den bereits absolvierten Streckenabschnitten.
Mache ich mir zu viele Gedanken? Ist der Lauf überhaupt so genau planbar? Kann diese Taktik aufgehen?
Der Wettkampftag begann perfekt. Stabiles Wetter, kein Regen (am Vortag gab es noch Regen und Gewitter). 3.15 Uhr: aufstehen, duschen, anziehen, Haferschleim kochen, nochmals kurz zur Ruhe kommen. Meine Schwester hat mich dann zur Abfahrt der Shuttlebusse nach Kaprun gebracht. 5 Uhr: in einem modernen Reisebus zum Startpunkt meines Laufes, nach Karls am Großglockner gefahren. Während der Fahrt etwas geschlafen, zweites Frühstück mit Haferschleim, fantastischen Sonnenaufgang in einer grandiosen Bergwelt genossen. Schön!
7.30 Uhr der Startschuss zu meinem Wettkampf. Meine Strategie zu Beginn (Baustein 1): Ich wollte mich schnell vorne einreihen und dann versuchen möglichst meine Position zu halten. Anders als bei allen meinen bisherigen Läufen ging es nach ein paar hundert Metern sofort bergauf. Ich lief weit vorne los, wurde jetzt aber bei den leichten Uphill-Passagen sofort wieder von Vielen überholt. Gleichzeitig machte sich sofort meine Plantarsehne in der Fußsohle bemerkbar. Hä? War mein Plan jetzt schon „für die Katz“? Ich nahm etwas Druck raus, der Fuß machte dann im „warmen“ Zustand keine Probleme mehr. Nach ca. 30 Minuten wurde es dann richtig steil. Und? Jetzt war mein Rhythmus da! Ich machte wieder Plätze gut und konnte mithalten. Ich befand mich nun wieder voll im Plan. Nur an welcher Position?
1:38 Stunden nur stramm berghoch. 1.300 Höhenmeter – für mich ein Genuss. Kraftvoller Stockeinsatz. Ein paar Wenige konnte ich noch überholen, Keiner kam an mir vorbei. Die erste Verpflegungsstation: nur schnell die Trinkflaschen aufgefüllt (Baustein 2). Dann der erste Downhill. Die Downhills, meine absolute Achillessehne. Die Oberschenkelmuskulatur für die Uphills kann man auch ganz gut mit Radfahren trainieren, aber für die Downhills geht’s eigentlich nur mit spezifischem (täglichem) Training in den Bergen. Habe ich mich vor vier Wochen beim Zugspitz-Ultratrail (111 km) vielleicht zu verhalten hinuntergestürzt, wollte ich es jetzt anders machen. All-In und dann schauen wie es weitergeht (Baustein 3).
Die Downhill-Passage lag mir! Zunächst wellig, dann sehr technisch, steil hinunter, nur schmale Single-Trails – ich konnte meine Position halten. Kurze waagerechte Laufstrecke kurz vor dem Glocknerhaus – hier konnte ich die Technik für die spätere Schlüsselstelle testen. Oje, das wird hart werden! Meine Oberschenkel glühten – ich lief wie auf Eiern – oder wie beim Triathlon, wenn es nach einer harten Radstrecke zum Laufen geht. Hoffnung machte mir jedoch, dass es meinen Mitstreitern auch nicht viel besser ging – ich konnte weiterhin gut mithalten.
Große Verpflegungsstation am Glocknerhaus – jetzt wieder der Baustein 2 meiner Strategie. Bei Ultraläufen nimmt man sich Zeit bei den Verpflegungsstationen, es gibt vielfältiges Essen, Nudeln, Brühe, Obst, Kekse, Kaffee, uvm. Abwechslungsreiches Essen ist bei langen Distanzen wichtig, denn das Entscheidende ist den Magen freundlich zu stimmen. Ich wollte mich jedoch ausschließlich mit meinen eigenen Energiegels versorgen. Also: Trinkflaschen auffüllen und weiter! Einige Weggefährten waren noch am Verpflegungspunkt als ich mich bereits den nächsten langen Anstieg hoch kämpfte. Von über 500 Startern lag ich jetzt an Position 49. Und somit absolut im Soll. Jetzt galt es diesen Rang zu halten!
Die knapp 600 Höhenmeter zur Pfandlscharte hatte ich in weniger als einer Stunde bezwungen. Was jetzt kam, kann ich kaum beschreiben. Ein riesiges steiles Schneefeld zeigte nach unten. Lange Seile waren notdürftig aneinander geknotet. Im Stehen war ein Halten nicht möglich. Auf dem Hosenboden rutschend, die Hacken in den hart gefrorenen Schnee zum Abbremsen und verzweifelt an dem Kletterseil Halt suchend - mit kalten Fingern und mit einem um die Hand gebundenem Halstuch – ging es hinab. Immer schneller wurde die Rutschpartie, am Ende Geröll, irgendwie zum Stoppen kommen - es gelang mir. Adrenalin pur! Kurz ausschütteln und weiter! Immerhin war das jetzt der Beginn des langen Downhills (1.500 Höhenmeter hinunter), der anschließend auf der langen und flachen „Schlüsselstelle“ mündet. Fast vier Stunden war ich bereits unterwegs.
Der Downhill war wieder sehr technisch, steil, anspruchsvoll, maximale Konzentration! Laufen lassen. Weiterhin konnte ich meine Position halten. Ich war auch bergab ungewöhnlich schnell.
Kilometer 32: Das Flachstück (und damit Baustein 4) begann. Meine Schwester mit Ehemann und Tochter waren jetzt an der Strecke. Kühles Wasser. Frische Socken, etwas leichtere Crossschuhe angezogen und weiter – laufend. Es war wie erwartet: hart. Aber ich lief! Voller Fokus auf jeden Schritt. Mittlerweile stand die Sonne im Zenit. Ich konnte auf der langen Passage meine Position festigen, das Feld hatte sich weit auseinandergezogen.
In Fusch, am Ende des Flachstücks, nochmals Anfeuerung von meinen drei Supportern. Kaltes Wasser über den Kopf und über den Rücken. Ein paar Schlucke getrunken. Über 6 Stunden war ich jetzt unterwegs. Nun berghoch! Der letzte lange und steile Anstieg und dann bergab ins Ziel. 15 km und knapp 900 Höhenmeter lagen jedoch noch vor mir.
Doch, wo war jetzt meine Kraft? Warum machte mir die Sonne so zu schaffen? Schwindel! Mir ging es plötzlich schlecht, sehr schlecht! Was war passiert? Ich hatte zu wenig getrunken, war dehydriert. Die warme Cola in meinen Softflask verursachte noch mehr Übelkeit. Ich brauchte Wasser – sofort! Aber es gab gar keine Verpflegungsstation mehr auf dem Weg ins Ziel. Hätte ich doch nur mehr Wasser getrunken, statt es mir über den Kopf zu gießen.
Die Zuversicht sank - dann kam das Geschenk! Mitten im Hang, eine Viehtränke! Mit einem kühlen Zufluss! Unfassbar, wie wichtig jetzt dieses Wasser war. Ich habe sehr viel getrunken, zum ersten Mal am heutigen Tag richtig viel getrunken und nicht nur ein paar (zu wenige) Schlückchen. Kopf unters Wasser, den ganzen Körper gekühlt. Immer wieder das Halstuch ins Wasser und im Rücken ausgewrungen. Und weiter. Und es war wieder alles gut. So einfach kann alles wieder gut werden und so einfach hätte ich hier scheitern können.
Erstaunlicherweise büßte ich in dieser Schwächephase nur wenige Plätze ein, die ich im Vorfeld aber herausgelaufen hatte. Mein Vorsprung aus der „Schlüsselstelle“ reichte noch.
Der letzte Downhill, die letzten 10 km – würde meine Kraft reichen? Eine Schwächephase durfte ich mir jetzt nicht mehr erlauben – zu stark waren die Athleten in meinem Nacken.
Der Abstieg war gefühlt deutlich länger als erwartet und nochmals ein sehr, sehr harter Kampf, aber ich war weiterhin fokussiert.
Um 16:10 Uhr lief ich –unter dem Applaus meiner Schwester, in Kaprun ins Ziel. 8:39 Stunden war ich unterwegs. Von 439 Teilnehmern habe ich den Gesamtrang 49 belegt (7 Läufer aus Deutschland waren vor mir). In meiner stark besetzten Altersklasse mit 99 Zieleinläufern habe ich den fünften Rang (zweitbester Deutscher) erreicht.
Meine Strategie ist aufgegangen. Meine Erfolgsbausteine waren gut ausgewählt. Es hat gepasst. 8:39 Stunde Vollgas und Fokussierung. Das klingt jetzt vielleicht etwas zu sachlich, aber genau die Herangehensweise an diesen Lauf und das Umsetzen der einzelnen Punkte, stets am Limit, hat mir diesmal sehr viel Freude bereitet.
Eine etwas längere Pause im Zielbereich und dann konnte ich tatsächlich das köstlich kalte Ziel-Bier genießen und die Nudeln haben auch geschmeckt. Eine tolle Veranstaltung, ein gelungener Lauf. Ein schöner Tag. Ich war zufrieden – und freue mich auf weitere Abenteuer.